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2 (2003), Nr. 1: Inhalt
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Kunstgeschichte im Medienwechsel - Intention und Thematik der Kolloquiumsakten  

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Seit einigen Jahren zeigt sich auch in den Geisteswissenschaften, dass der Medienumbruch weg von den analogen und hin zu den digitalen Medien gravierende Folgen sowohl für die kulturelle Produktion als auch für die wissenschaftliche Forschung mit sich bringt. Dies gilt besonders stark für die Kunstgeschichte als eine Disziplin, die sich mit Bildern beschäftigt und die gleichzeitig immer mehr auf eine künstlerische Produktion stößt, die mit Unterstützung der elektronischen Medien entstanden ist. Die Potentiale der Bildcodierung nämlich scheinen in den digitalen Medien noch erheblich größer zu sein als die der Textcodierung. Einen anschaulichen Beleg dafür bietet das Internet, das sich zuletzt immer deutlicher zu einem visuellen Medium entwickelt.

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In einem Fach wie der Kunstgeschichte, das nach langem Zögern inzwischen auf breiter Ebene elektronisch gestützte Anwendungen bei der Datenbankerschließung etwa - Beispiel wären hier die vielfältigen Initiativen von Foto Marburg, dem Deutschen Dokumentationszentrum für Bildende Kunst - , der Architekturvermessung, der virtuellen Rekonstruktion von künstlerisch ausgestatteten Räumen und auch der automatischen Bildinhaltsanalyse einsetzt, fehlt bisher eine vor allem methodische Selbstvergewisserung. Vielfach hat man den Eindruck, dass Dinge betrieben werden, über deren Stellenwert im Rahmen eines humanistisch/geisteswissenschaftlichen Kontextes keinerlei Rechenschaft abgelegt wird. Dabei ist die Antwort auf die methodische Frage keineswegs selbstverständlich und scheint die grundsätzlichsten Aspekte der fachlichen Positionsbestimmung zu berühren.

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Wird das digitale Medium einfach nur eine Beschleunigung in der Abarbeitung traditioneller Aufgabenstellungen, eventuell eine positivistische Ausweitung der Problemstellungen und der quantitativen Tiefenerschließung bringen? Oder wird auch hier die inzwischen ins Zentrum geisteswissenschaftlicher Ansätze gerückte Frage nach dem Einfluss der medialen Grundlagen eines Faches auf dessen Fragehorizonte insofern virulent, als das Medium geläufige Ansätze obsolet macht und bisher ganz unbekannte oder auf die Seite geschobene wieder ins Zentrum rückt? William Vaughan etwa, einer der Beiträger dieser Publikation, hat mit guten Argumenten die These vertreten, dass die Kunstgeschichte unter dem Eindruck der neuen Medien von Kontextfragen abrücken und die Struktur des Kunstwerkes selber wieder verstärkt thematisieren könnte [1]. Andere sehen in der forcierten Einführung von Datenbanken einen Zwang zu Strukturierungsleistungen, der vor allem in den Museen deutlich veränderte Denk- und Arbeitsweisen hervorrufen dürfte. 

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Wenn die Computerindustrie heute unter Hochdruck automatische Bildabfragemodule entwickelt - verwiesen sei etwa auf IBMs "QBIC" (Query by Image Content), also eine Abfrage, die direkt das Bild adressiert und keine verbalen Beschreibungen des Bildes -, so zielt man hier auf industrielle Bedürfnisse etwa der Lagererschließung und der Zugangskontrollsysteme ab: Außer Zweifel dürfte aber stehen, dass auch die Kunstgeschichte, die bisher mit Begriffen nach sekundär erschlossenen Bildern sucht, hier eventuell ganz neue Möglichkeiten an die Hand bekommt - und gleichzeitig medial angeregte (oder erzwungene) Interessen entwickelt, die vorher nicht geläufig waren. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass auch in Forschungsansätzen, die nicht explizit digital orientiert sind, erstaunliche Parallelen zu dem zu beobachten sind, was hier gerade mit der digital induzierten Wende von der Sprache zum Bild kurz angedeutet wurde: Svetlana Alpers und Michael Baxandall etwa verfolgen1994 in ihrem Tiepolo-Buch [2] Ansätze, deren ikonographie-indifferenter Formalismus geradezu frappierende Ähnlichkeiten mit einer "Query by image content" aufweist.

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Aspekte dieser Entwicklung werden in der vorliegenden online-Publikation reflektiert - und zwar programmatisch in einer methodischen und nicht rein Gegenstand-erschließenden Perspektive. Es geht um die Transformation von Wissen in Information unter digitalen Bedingungen (William Vaughan) und um veränderte Formen des Austausches zwischen Lehrenden und Studierenden in internet-basierten Studieneinheiten (Jens Bove/ Britt Kroepelien). Neue Formen der Wissensstrukturierung, wie sie aber seit Urzeiten in rhetorischen Kontexten der Mnemotechnik vorgegeben scheinen, diskutiert Katja Kwastek und zeigt damit Perspektiven alinearer Gegenstandsbeschreibung auf, die im Zentrum des hypertextuellen Mediums stehen. Das von Monika Fleischmann und Wolfgang Strauss vorgestellte Projekt netzspannung.org könnte man durchaus als den Realisierungsversuch eines solchen Konzeptes verstehen.

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Auch medienadäquaten Formen der Vermittlung kunsthistorischer Inhalte könnte eine große Zukunft beschieden sein, wenn sich die Fachgemeinschaft darauf einlässt, tief verwurzelte Vorstellungen von der Erschließung kunsthistorischer Inhalte zu überdenken (Holger Simon). Vorgestellt werden Systeme zur elektronischen Markierung von Bilddetails und Datenbankstrukturen, die der Spezifik geisteswissenschaftlicher Fragestellungen entsprechen (Martin Warnke/ Manfred Thaller). Dabei dürfte Thallers Plädoyer für weniger stark strukturierte Datenaufnahmen auch ein Licht auf die Krise der computergestützten Inventarisationspraxis werfen, die in dem Beitrag Tobias Nagels zum Ausdruck kommt.

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Automatische Bildanalysemethoden stehen an anderer Stelle im Vordergrund (Stefan Heidenreich), daneben das Museum als atmendes System der Vernetzung, das so manche Anregung auch für den wissenschaftlichen Diskurs liefern dürfte (Sabine Fabo). Arthur Engelberts Reflexionen, die auf umfangreiche eigene Aktivitäten im Bereich der kunsthistorischen CD-ROM-Produktion rekurrieren, hinterfragen die Möglichkeiten einer visuell orientierten Bildanalyse. Aber auch Anmerkungen wie die von Matthias Bruhn muss man als Beitrag zur methodischen Neuorientierung des Faches verstehen, weil auf einer ganz praktischen Ebene der Projektdurchführung von der Wissenschaft Management-Kompetenzen eingefordert werden, über die sie von Hause aus nicht verfügt.

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Eine höchst bedenkenswerte Reflexion über das Verhältnis von digitalem und analogem "Wissen" bietet Claus Pias, der mit folgender Aussage allerdings die entscheidende Konsequenz zu ziehen scheint: "Ich befürchte aufrichtig, dass auch wir erst in 25 Jahren wissen können, was die neuen Medien aus der Kunstgeschichte gemacht haben werden." Mit ihr nämlich scheint uns (zugegebenermaßen gegen die Tendenz des Beitrages selber gerichtet) die Legitimation dafür gegeben zu werden, mit dem Digitalen auch schon zu arbeiten, wenn seine Konsequenzen noch nicht abzusehen sind. Denn: die 25-Jahres-Spanne beginnt immer erst dann, wenn der Startschuss gegeben ist.

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In einem letzten Teil werden digitale kunsthistorische Projekte vorgestellt, in denen manche der angesprochenen Themen schon realisiert scheinen. Auch wenn eine solche Auswahl zwangsläufig fragmentarischen Charakter und auch gar nicht den Anspruch hat, einen auch nur annähernd vollständigen Überblick über bestehende Projekte im deutschsprachigen Raum zu bieten, so sollen die Präsentationen doch einen Gegenpol zur der dem methodischen Ansatz der Tagung und Publikation geschuldeten theoretischen Herangehensweise der Vorträge bieten. Sie stehen beispielhaft für die zahlreichen und strukturell wie inhaltlich extrem heterogenen Bestrebungen zum praktischen Einsatz des Computers in der Kunstgeschichte und erweitern das Themenspektrum der Publikation gleichzeitig um vieles, das im Rahmen des Kolloquiums in den lebhaften Diskussionen zur Sprache kam. So wird mit 'kunsttexte.de' eine junge Initiative zur digitalen Publikation, mit 'artcampus' ein Schweizer E-Learning Projekt, das in engem Austausch mit der 'Schule des Sehens' (siehe Beitrag von Jens Bove) steht, und mit 'Prometheus' die derzeit zukunftsträchtigste Initiative zum Austausch von Bilddaten im deutschsprachigen Raum vorgestellt. 

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Mit den Überlegungen von Hubertus Günther zu den Chancen der dreidimensionalen Architektur-Visualisierung in der Lehre, sowie der Vorstellung von weiteren Züricher Projekten im Bereich der Architekturanalyse und der römischen 'Lineamenta'-Datenbank wird die Publikation um Beispiele aus dem architekturhistorischen Bereich ergänzt, wobei 'Lineamenta' auch als Repräsentant von Bemühungen um die Bereitstellung hochauflösender Reproduktionen empfindlicher Originale stehen soll. Die Vorstellung der digitalen Projekte des 'Zentralarchivs des internationalen Kunsthandels' steht stellvertretend für viele ausseruniversitäre Projekte und weist zudem deutlich auf die Probleme der Archivierung digitaler Korrespondenzen hin. Die Trierer Datenbank 'Memories of Slavery' schließlich zeigt, wie selbstverständlich die Einbeziehung digitaler Hilfsmittel in inhaltlich avancierte Projekte schon sein kann.
Wenn diese Zusammenstellung von methodischen Reflexionen und Projektvorstellungen dazu beiträgt, unsere Absicht zu qualifizieren, ein Bewusstsein von den methodischen Implikationen des Medienwechsels in der Kunstgeschichte zu erzeugen, haben wir unser Ziel erreicht.

Anmerkungen

1 William Vaughan: Computergestützte Bildrecherche und Bildanalyse, in: Hubertus Kohle (Hg.): Kunstgeschichte digital, Berlin 1997, 97-105.
2 Svetlana Alpers / Michael Baxandall: Tiepolo and the pictorial intelligence, New Haven / London 1994.

Autoren

Hubertus Kohle Hubertus.Kohle@lrz.uni-muenchen.de
Katja Kwastek Katja.Kwastek@lrz.uni-muenchen.de


ZEITENBLICKE ISSN: 1619-0459
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